gateSTORY: Simulieren statt testen
Fake it ´til you make it“ – die Phrase rät zwar zu vorgetäuschtem Selbstbewusstsein. Auf die Innovationen in der Automobilindustrie kann man sie dennoch anwenden. Denn der Trend geht hin zur Simulation. Die gate-Startups Numeric Systems und VIBES.technology ersetzen mit ihrer Technologie bereits zeit- und kostenspielige Tests.
Die Automobilindustrie ist unumstritten eine der wichtigsten deutschen Industriesäulen. Vor allem die Metropolregion München profitiert von ihr. Startups wie Numeric Systems und VIBES.technology haben dadurch viel Potenzial, um ihre Ideen zu verwirklichen. Die beiden gate-Startups tragen mit ihren Innovationen dazu bei, die Produktentwicklung an entschei-denden Schnittstellen zwischen BMW, Audi & Co. und den zahlreichen Zulieferern zu optimieren.
INNOVATIVE AERODYNAMIK-SIMULATIONEN VON NUMERIC SYSTEMS
Numeric Systems ist Experte in der digitalen Aerodynamik-Simulation für die Fahrzeug-Entwicklung. Das Interesse daran, Probleme bei der Aerodynamik von Autos und LKWs frühzeitig zu erkennen ist groß, um die Entwicklungskosten zu senken. Bereits seit den 90er Jahren werden Simulationen eingesetzt, um zu testen, ob die Fahrzeuggeometrie mit den Windkräften in Einklang ist. Experimentelle Untersuchungen in Windkanälen dienen dazu, die Berechnungen aus den Simulationen in realen Verhältnissen zu validieren. Die Tests sind wichtig, da die unterschiedlichen aerodynamischen Auftriebs-, Widerstands- und Rotations-kräfte massive Auswirkungen auf die Sicherheit, das Fahrerlebnis und auch den Spritverbrauch der Fahrzeuge haben.
Warum diese Simulationsprozesse eine innovative Lösung benötigen, erklärt Numeric Systems-Gründer Eugen Riegel so: „Die Herausforderung im Entwicklungsprozess ist das kontra-intuitive Strömungs-verhalten. Die vielen Wechselwirkungen in der Aerodynamik erschweren es deutlich, ein ansprechendes Design mit den gewünschten aerodynamischen Eigenschaften in Einklang zu bringen.“ Experimentelle Untersuchungen im Windkanal sind nach wie vor die zuverlässigste Lösung, um die Fahrzeugaerodynamik zu untersuchen. Diese Tests sind jedoch teuer und aufwändig und erlauben dabei gleichzeitig wenig Einblick in die Topologie der Strömung. Daher ist der Anspruch an Aerodynamik-Simulationen deutlich günstiger und dabei trotzdem genau, schnell und detailliert zu sein, um die Tests effektiver zu machen.
Für Simulationen werden klassischerweise CPU-Prozessoren genutzt, also die zentrale Recheneinheit eines Computers. Eugen Riegel hat mit dem Simulationstool Pacefish ® einen anderen Ansatz entwickelt: Die Pacefish-Simulationen werden mit Hilfe von leistungsfähigeren, reinen Grafikprozessoren, sogenannten GPUs, erstellt. Das spart 90 Prozent der bisherigen Kosten ein, sorgt für eine Leistungssteigerung um den Faktor 30 und ist dabei ebenso genau und darüber hinaus sogar schneller. Die Technologie ist damit einmalig am Markt.
Die Idee hatte Eugen Riegel schon im Jahr 2007, während seines zweiten Semesters im Studium Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität München (TUM). Im Computermagazin ct‘ las Eugen Riegel vom technischen Sprung, den Grafikkarten zu dem Zeitpunkt machten. Für seine erste Semester-arbeit untersuchte er die Nutzung der Innovation für Aerodynamik-Analysen. Am Lehrstuhl für Aerodynamik konnte er letztlich seinen Ansatz erproben und die Idee zum Geschäftsmodell weiter entwickeln.
PACEFISH SCHREIBT ERFOLGSGESCHICHTE
Das Geschäftsmodell von Numeric Systems basiert auf drei Säulen:
- Pacefish ist Teil der SimScale-Cloud. Der Anbieter von web-basierten Software-Applikationen und gate-Alumni integrierte die Technologie in sein Angebot für die Analyse von Windverläufen bei Neubauten.
- Die Software ist als Lizenz verfügbar. Entweder in Form einer Jahreslizenz für langfristige Laufzeiten oder als Pay-per-Use-Modell auf Stundenbasis.
- Dienstleistung des Numeric System-Teams: Die Bearbeitung des Projekts übernimmt das Team direkt selbst anhand der Software.
Die Technologie von Numeric Systems überzeugte auch Betterflow, einen Hersteller aerodynamischer Verbesserungen für Lkw, dank derer bis zu 15% des Luftwiderstands eingespart werden. Die Kooperation zeigt deutlich, wie viel Zeit und Kosten bei der Entwicklung von aerodynamischen Designs eingespart werden können.
Seit September 2019 ist Pacefish bei Betterflow ständig im Einsatz. Das Feedback von Betterflow-Geschäftsführer Ingo Martin spricht für sich: „Pacefish bietet uns eine am Markt einmalige Kombination aus hoher Genauigkeit der Simulationsergebnisse bei gleichzeitig kurzer Durchlaufzeit und geringen Kosten. Durch den Einsatz von Pacefish können wir unsere Aerodynamik-Komponenten für LKWs kontinuierlich verbessern und in der Folge den Kraftstoffverbrauch sowie den CO2-Ausstoß im Güterverkehr auf der Straße weiter reduzieren.“
POTENZIAL FÜR NEUE MÄRKTE
Die Numeric Systems hat mittlerweile sechs Mitarbeiter. Das Team will 2022 skalieren und die Technologie stets auf dem neuesten Stand halten. Denn der sich ständig entwickelnde Automobilmarkt verlangt regel-mäßig nach zuverlässigen Updates der Software.
Die Vision von Eugen Riegel ist die Nutzung der Simulationstechnik zu demokratisieren. Denn auch in anderen Branchen, die nicht so viel Budget wie die Automobilbranche für Tests zur Verfügung haben, kann die Technologie einen entscheidenden Unterschied machen. Vor allem kleinere Unternehmen könnten von kostengünstigen und vollwertigen Simulationen für ihre Aerodynamik-Untersuchungen profitieren.
Ziel des Startups ist es daher, die Technologie noch früher im Entwicklungsprozess bei den Automobil-herstellern zu etablieren und auch andere Märkte zu erschließen. Mögliche Anwendungsfälle sind die Windanalyse um Gebäude in Häuserschluchten, Luftstrom in Räumlichkeiten, Aerodynamik von Flug-objekten oder die Strömung in ganzen Windparks bestehend aus vielen Windrädern.
FAHRZEUGSOUND-SIMULATIONEN VON VIBES.TECHNOLOGY
Neben der Aerodynamik nimmt der Klang eines Fahrzeugs einen ebenso wichtigen Stellenwert bei der Entwicklung ein. Denn je leiser ein Auto fährt, desto hochwertiger wird es wahr genommen. Wie ein Fahrzeug klingt, hängt von all den verschiedenen Komponenten ab, aus denen das Fahrzeug zusammen gesetzt ist und wie diese sich gegenseitig beeinflussen. Entscheidende Geräuschquellen sind beispiels-weise die Reifen, die Klimaanlage oder der elektrische Antrieb.
Das Sound Design ist dementsprechend schwierig zu prognostizieren und die Entwicklung ist ebenfalls abhängig von Tests, um herauszufinden, wie sich die vielen verschiedenen Bauteile auf den Fahrzeug-sound auswirken.
Aktuell werden zum Testen die Prototypen mit Mikrophonen und Sensoren ausgestattet, um die sog. Noise Vibration Harshness (NVH) zu messen. Dieses Vorgehen ist jedoch teuer und aufwändig. Hinzu kommt, dass die Tests erst verhältnismäßig spät im Entwicklungsprozess durchgeführt werden können. Die Ausbesserung der Fehler ist wiederum aufwändig und kostenintensiv. VIBES.technology hat daher einen anderen Ansatz entwickelt, um den Fahrzeugsound zu optimieren. Mit dem Ziel, schon vor dem Prototyping vorhersagen zu können, wie sich die einzelnen Komponenten im Zusammenspiel anhören, hat das Startup eine Methode entwickelt mit der Komponentenmodelle aus Versuch und Simulation virtuell miteinander gekoppelt werden können. Damit setzt VIBES.technology sehr früh in der Konzeptionsphase an, was den Automobilherstellern Zeit und Kosten spart.
Das Zusammenspiel der individuellen Komponenten kann damit überprüft werden, ohne dass diese real in den zig verschiedenen Varianten in Prototypen verbaut werden müssen. Die frühere Verfügbarkeit der Prognosen ist meist ausschlaggebend für die Kaufentscheidung der Automobilentwickler. Eric Pasma ist im Team für das Business Development verantwortlich und kann aus Erfahrung berichten: „Unsere Kunden adaptieren unseren strategischen Ansatz schnell. Wir können verfolgen, wie sich Fahrzeugkonzepte bereits in frühen Entwicklungs-phasen als (un-)brauchbar herausstellen.“
Da als Klangdämmung in der Regel schwere Materialien eingesetzt werden, erfüllt die Technologie von VIBES.technology noch einen weiteren Vorteil: Durch die besseren Schallisolationskonzepte werden die Fahrzeuge auch leichter und damit ressourcen-schonender.
STRATEGISCHES WACHSTUM
VIBES.technology wurde 2016 in Delft gegründet. Das Startup entstand aus der Forschungs-arbeit von Prof. Daniel Rixen, Dennis de Klerk, Maarten van der Seijs und Eric Pasma an der TU Delft, welche von BMW unterstützt und finanziert wurde. Seit dem Wechsel von Prof. Rixen an die TU München arbeiteten Experten der zwei Universitäten bei VIBES zusammen. So auch Michael Häußler, der das Startup in Garching vertritt.
VIBES.technology startete seine Reise hin zum skalierenden Startup als Consulting-Unternehmen. Der Plan, mit den Einnahmen aus der Beratung die nötige Entwicklung für die Software-Produkte zu finanzieren, ging auf. Der zweite Platz beim Eurostars Förderprogramm trieb das Wachstum entscheidend voran. So gelang der Shift hin zum Software-Unternehmen und die Produktpalette spiegelt die Entwicklung des Startups wider:
• Die VIBES Toolbox für MATLAB war VIBES erstes kommerzielles Softwareprodukt und erleichtert die Anwendung der entwickelten Methoden in der Skript Sprache Matlab.
• DIRAC ist die Software, welche die Erstellung von physikalisch validierten, experimentellen Modellen
ermöglicht – essentielle Basis für weitere Berechnungen.
• Aus einer Kooperation mit Lightyear entstand SOURCE – hier werden Betriebsmessungen von akustischen Quellen (z.B. elektrischen Antrieben) analysiert und verarbeitet. In SOURCE werden Vorhersagen getroffen, wie dieselbe Komponente in einem anderen Design oder Fahrzeug klingen würde.
• Mit der Applikation COUPLE können experimentelle Modelle aus DIRAC mit simulativen Modellen gekoppelt werden. Damit wird die Schallübertragung im virtuellen Fahrzeugprototyp simuliert.
• Die VIBES Academy bietet seit neuestem eine Plattform, um das Knowhow rund um NVH Engineering für die Kunden leicht zugänglich zu machen.
ZUVERSICHTLICH IN DIE ZUKUNFT
Mittlerweile besteht das Team aus mehr als 25 Mitarbeiter*innen. Wettbewerbsvorteile des Teams sind laut eigener Aussage dessen Forschungshintergrund und Flexibilität. Das Produktportfolio kann außerdem den individuellen Anforderungen der Kunden mit maßge-schneiderten Lösungen begegnen. Das Startup profitiert zudem von einem starken Netzwerk aus internationalen Experten im Bereich Testing und entsprechender Software-Entwicklung.
Das Startup sieht in der Automobilbranche auch künftig große Chancen. Daher spielt die Spezialisierung der Technologie auf den Automobilsektor strategisch eine große Rolle. Ziel für 2022 ist die Weiter-entwicklung der Software-Palette, um Ingenieuren weltweit den best-möglichen Workflow für modulare Akustikentwicklung zu bieten.